Die schleichende Einbindung in die NATO
Die Partnership for Peace ist nicht vereinbar mit der integralen NeutralitÀt der Schweiz. Und dennoch versuchen Politiker klammheimlich, die Schweiz in die NATO zu integrieren.
Von Michael Straumann
Die NeutralitĂ€t gehört neben der direkten Demokratie, dem Föderalismus und der SubsidiaritĂ€t zu den tragenden SĂ€ulen des schweizerischen Staatswesens. Sie geniesst bei der Bevölkerung hohe PopularitĂ€t. Dies hat zuletzt die diesjĂ€hrige Nachbefragung der MilitĂ€rakademie der Eidgenössischen Technische Hochschule (ETH) nochmals klar und deutlich bestĂ€tigt. Die Zustimmung zur NeutralitĂ€t lag in der Bevölkerung seit 1989 nie tiefer als 78 Prozent. Seit dem Jahr 2005 hat sie stetig zugenommen und in diesem Jahr den Rekordwert von satten 97 Prozent erreicht.1 Ăberspitzt kann man von nordkoreanischen VerhĂ€ltnissen sprechen. Trotz diesen hohen Beliebtheitswerten versucht die schweizerische Classe politique an allen Ecken und Enden am erfolgreichen Konzept der NeutralitĂ€t, welches jahrhundertelang funktioniert und die Schweiz zu einer Friedensoase im kriegsgeplagten Europa gemacht hat, zu sĂ€gen.
Bereits die Wahl der Schweiz in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UNO) erweist sich als extrem problematisch fĂŒr deren NeutralitĂ€t. In diesem Rat entscheiden die Mitglieder ĂŒber Krieg und Frieden auf dem Globus. Diese Aufgabe kann kein Land wie die Schweiz wahrnehmen, das eine neutralitĂ€tspolitische Staatsdoktrin verfolgt. Dr. Paul Widmer, Diplomat und Lehrbeauftragter fĂŒr Internationale Beziehungen an der UniversitĂ€t St. Gallen, brachte die Unvereinbarkeit der Schweiz mit einer Mitgliedschaft im UNO-Sicherheitsrat in einem NZZ-Beitrag vor ein paar Jahren auf den Punkt: «Wie man es auch dreht: Eine Schweiz im Sicherheitsrat wĂŒrde in delikaten Fragen entweder mit ihren hĂ€ufigen Enthaltungen ein ohnehin schwaches FĂŒhrungsorgan noch weiter schwĂ€chen oder sonst mit ihrer Parteinahme ihre NeutralitĂ€t gefĂ€hrden. (âŠ)»
Mit dem Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine im Februar 2022 erreichte die schweizerische Aussenpolitik einen historischen Tiefpunkt. Mit der Ăbernahme der Wirtschaftssanktionen der EuropĂ€ischen Union hat sich die Schweiz selbst zur Kriegspartei gemacht. Die NeutralitĂ€t ist damit preisgegeben worden. Russland hat selbstverstĂ€ndlich auf diese Massnahme reagiert und die Schweiz auf die «Liste unfreundlicher Staaten» gesetzt. Viele einheimische Politiker und Journalisten reden sich immer noch auf autosuggestive Weise ein, dass die Schweiz nach wie vor neutral sei. Es wird sogar an neuen Wortschöpfungen wie der «Kooperativen NeutralitĂ€t» rumgebastelt, um diesen eklatanten Bruch der eidgenössischen Bundesverfassung zu kaschieren. Diese Kaschierung wird dann zusĂ€tzlich von einer bundesratsaffinen Denkfabrik mit einer Studie «wissenschaftlich» untermauert. Nicht nur die Russische Föderation sieht die Schweiz nicht mehr als neutral an. Auch in den Vereinigten Staaten wird diese Sichtweise geteilt. Unter anderem The New York Times, die auflagenstĂ€rkste Zeitung der USA, ist der Ansicht, dass die Schweiz ihre «Tradition der NeutralitĂ€t» aufgegeben hat.
Sowohl die Wahl der Schweiz in den UNO-Sicherheitsrat, als auch die Ăbernahme der EU-Wirtschaftssanktionen gegen Russland machen deutlich, dass der gegenwĂ€rtige Zustand der schweizerischen NeutralitĂ€t - in sehr milden Worten ausgedrĂŒckt - sehr zu wĂŒnschen ĂŒbrig lĂ€sst. Doch auf einen Aspekt soll in diesem Zusammenhang besonders eingegangen werden. NĂ€mlich auf die Rolle der Schweiz in der Partnership for Peace (PfP) der NATO. Sie hat mittel- bis langfristig das Potenzial, die bereits jetzt sehr stark beschĂ€digte NeutralitĂ€t der Schweiz endgĂŒltig zu beerdigen. Nur wenige Menschen in der Schweiz haben dies auf dem Schirm, geschweige denn wissen, was ĂŒberhaupt die Partnership for Peace ist.
Es handelt sich um ein militĂ€risches Kooperationsprogramm, das von der NATO im Jahr 1994 ins Leben gerufen wurde. Die Initiative wurde von der NATO mit der Absicht lanciert, die sicherheitspolitische und militĂ€rische Zusammenarbeit in Europa noch weiter zu vertiefen.2 Bei diesem Programm können sich auch Staaten beteiligen, die keine vollstĂ€ndige Mitgliedschaft haben möchten, aber an einer Zusammenarbeit mit der NATO interessiert sind. Am 11. Dezember 1996 unterzeichnete CVP-Bundesrat Flavio Cotti in BrĂŒssel den Vertrag zu der Partnership for Peace. Eine Volksabstimmung fand ĂŒber diese aussenpolitisch hochbrisante Angelegenheit nie statt. Zu den Zielen der Partnership for Peace gehört unter anderem die «Entwicklung von StreitkraÌften, die mit denen (âŠ) Mitgliedstaaten der Nordatlantischen Allianz besser gemeinsam operieren koÌnnen», heisst es in der Einladung der Schweiz zur Partnership for Peace.3
Teil des PfP-Programms sind unter anderem militĂ€rische Operationen im Ausland. In regelmĂ€ssigen AbstĂ€nden nimmt die Schweizer Armee an AusbildungsaktivitĂ€ten teil. Zudem ist sie Teilnehmerin an NATO-Grossmanövern wie zum Beispiel der Arctic Challenge Exercise 2015 und der Trident Juncture 2018. DarĂŒber hinaus engagiert sie sich in langfristigen Missionen wie zum Beispiel der Kosovo Force (KFOR) im Kosovo, die seit dem Beginn des Jugoslawien-Kriegs im Jahr 1999 lĂ€uft. Das schweizerische MilitĂ€r war auch eine Zeit lang im Rahmen der International Security Assistance Force (ISAF) von 2004 bis 2008 in Afghanistan tĂ€tig, wobei schweizerische Stabsoffiziere entsandt wurden.
In ihrem PfP-PrĂ€sentationsdokument betont die offizielle Schweiz ausdrĂŒcklich: «Die Schweiz ist zur dauernden und bewaffneten NeutralitĂ€t verpflichtet. Sie hat nicht die Absicht, ihre NeutralitĂ€t aufzugeben und möchte nicht Mitglied der Nordatlantikvertrags-Organisation werden.» Allerdings zeigt die RealitĂ€t, dass die PfP oftmals als Sprungbrett fĂŒr einen vollstĂ€ndigen NATO-Beitritt genutzt worden ist. Die Neue ZĂŒrcher Zeitung bezeichnete im Jahr 2006 - im Zusammenhang mit dem damaligen Beitritt von Bosnien-Herzegowina und Serbien - die Partnership for Peace als «Vorstufe einer NATO-Mitgliedschaft». Der Basler Historiker und Friedensforscher Dr. Daniele Ganser nannte die PfP den «Kindergarten der NATO». Im Rahmen der parlamentarischen Motion «Austritt aus dem Nato-Programm "Partnership for Peace"», die am 18. September 2019 eingereicht wurde, zitierte der SVP-Nationalrat Luzi Stamm den ehemaligen US-amerikanischen Verteidigungsminister William Perry: «Der Unterschied zwischen einer Nato-Mitgliedschaft und einer Beteiligung an der Nato-Initiative 'Partnership for Peace' muss dĂŒnner gemacht werden als ein Blatt Papier.» Mittlerweile sind 14 Staaten, die frĂŒher in der PfP waren, Teil der Nordatlantikvertrags-Organisation.
Nun könnte man als Advocatus Diaboli einwenden, dass gerade bei neutralen Staaten wie der Schweiz keine Gefahr besteht, dass es mit der PfP zu einem NATO-Beitritt durch die HintertĂŒr kommt. Die skandinavischen Staaten Schweden und Finnland, die sehr lange als neutral oder zumindest militĂ€rbĂŒndnisfrei gegolten haben, zeigen allerdings, dass diese BefĂŒrchtung nicht völlig aus der Luft gegriffen ist. Beide Staaten traten der Partnership for Peace am 9. Mai 1994 bei. Lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gab es bei Finnland und Schweden Bestrebungen, Mitglied in der NATO zu werden. Bereits im Jahr 2015 wurde ĂŒber einen NATO-Beitritt laut gedacht. Mit der Eskalation des seit acht Jahren andauernden Ukraine-Konfliktes scheint ein Beitritt beider Staaten sich nun endgĂŒltig abzuzeichnen. Vor diesem Hintergrund ist auch der Beitritt der Schweiz in die NATO ein realistisches Szenario.
In einem neuen sicherheitspolitischen Strategiepapier liebĂ€ugelt die FDP mit einer noch engeren Zusammenarbeit mit der NATO. Im Papier fordern die Freisinnigen, dass das schweizerische MilitĂ€r mit der NATO im Ernstfall in den Krieg ziehen könne. Gleichzeitig möchte sie jedoch die NeutralitĂ€t der Schweiz beibehalten. Im Bericht wird von einer «mit der NeutralitĂ€t kompatiblen Doktrin der Verteidigungskooperation ohne BĂŒndnisbeitritt» gesprochen. Ein gedanklicher Spagat sondergleichen.
Auch wenn der Bundesrat weiterhin an der NeutralitĂ€t festhalten möchte, zeigt sie sich fĂŒr eine engere Zusammenarbeit mit der NATO sehr offen. Vorstellbar seien etwa «(âŠ) eine verstĂ€rkte Teilnahme an Ăbungen, eine Ausweitung der militĂ€rischen ZusammenarbeitsfĂ€higkeit auf verteidigungsrelevante Bereiche, eine Intensivierung des Partnerschaftsstatus bei der Nato oder eine Beteiligung der Armee an EU-VerbĂ€nden (âŠ)», lauten die Verlautbarungen im Bericht des Eidgenössischen Departements fĂŒr Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport, welcher am 7. September veröffentlicht wurde.
Wichtige EntscheidungstrĂ€ger in der schweizerischen Politik scheinen sehr erpicht darauf zu sein, den NeutralitĂ€tsbegriff in orwellscher Manier zu pervertieren und aufzuweichen. Diese Entwicklung stellt eine grosse Gefahr fĂŒr die schweizerische NeutralitĂ€t dar, die mittel- bis langfristig in einer echten NATO-Mitgliedschaft mĂŒnden könnte.
Tresch, Tibor Szvircsev / Wenger, Andreas / Rosa, Stefano De u.a.: Sicherheit 2022. Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend, S. 184, in: ETH ZĂŒrich - Center for Security Studies, 21.6.2022, Online: https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/Si2022.pdf, Stand: 24.8.2022.
Die NeutralitĂ€t der Schweiz, in: Eidgenössisches Departement fĂŒr auswĂ€rtige Angelegenheiten, 10.2004, Online: https://web.archive.org/web/20210526232358/https://www.eda.admin.ch/dam/eda/de/documents/aussenpolitik/voelkerrecht/Die%20Neutralitaet%20der%20Schweiz.pdf, Stand: 26.8.2022.
Einladung zur Partnerschaft fĂŒr den Frieden, in: Partnerschaft fĂŒr den Frieden, 10.1.1994 - 11.1.1994, S. 3, Online: https://www.pfp.admin.ch/content/pfp-internet/en/dokumentation-grundlagendokumente-/_jcr_content/contentPar/downloadlist_907158348/downloadItems/72_1455024500377.download/Einladung%20zur%20Partnerschaft%20f%C3%BCr%20den%20Frieden.pdf, Stand: 10.9.2022.
Die Schweiz wird im inneren morsch, sie wird unterhöhlt, aber mit viel
Behutsamkeit, dass es lĂ€nger dauert, bis der Widerstand gegenĂŒber der EU
zusammenbricht. Ihr Untergang gestaltet sich weniger dramatisch als in
anderen LĂ€ndern. Das berĂŒhmte Schild der NeutralitĂ€t macht immer noch einen
gewissen Eindruck.