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1. MissverstÀndnis: Digitale IdentitÀt = Kontrolle

Behauptung im Text: Eine digitale IdentitĂ€t schaffe Grundrechte ab und fĂŒhre zwangslĂ€ufig in ein Kontrollsystem.

Widerlegung: Eine digitale IdentitĂ€t ist zunĂ€chst nur ein technisches Werkzeug, das den Zugang zu staatlichen oder privaten Diensten vereinfacht. Ob sie zu Kontrolle oder Freiheit fĂŒhrt, hĂ€ngt von der rechtlichen Ausgestaltung, Transparenz und Datenschutzstandards ab.

In der Schweiz etwa wurde die erste E-ID-Vorlage 2021 abgelehnt genau wegen Kontrollbedenken – die neue Vorlage wurde so angepasst, dass sie staatlich getragen und datenschutzkonform ist.

Vergleich: Ein Pass oder eine Krankenkassenkarte ist auch eine Form von „IdentitĂ€tssystem“ – niemand wĂŒrde behaupten, sie seien per se UnterdrĂŒckungsinstrumente.

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2. Falsches MenschenrechtsverstÀndnis

Behauptung: Ein Menschenrecht auf digitale IdentitÀt sei absurd, weil es so wÀre wie ein Recht auf SIM-Karte oder PayPal.

Widerlegung:

Menschenrechte entwickeln sich mit der Zeit. Es gibt auch „neue“ Rechte wie das Recht auf Datenschutz oder Informationsfreiheit, die frĂŒher undenkbar waren.

Recht auf digitale IdentitĂ€t bedeutet nicht „Pflicht zur E-ID“, sondern dass kein Mensch vom Zugang ausgeschlossen werden darf, wenn Staaten oder Organisationen digitale IdentitĂ€tssysteme einfĂŒhren.

In vielen EntwicklungslÀndern ist der Zugang zu einer rechtlichen IdentitÀt entscheidend, um Grundrechte wahrzunehmen (Bankkonto eröffnen, Eigentum sichern, wÀhlen gehen). Ohne digitale IdentitÀt existieren diese Menschen faktisch nicht im Rechtssystem.

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3. Schritt-fĂŒr-Schritt-Zwangsthese („Trojanisches Pferd“)

Behauptung: Erst freiwillig, dann praktisch, dann Zwang.

Widerlegung:

Das ist ein Dammbruchargument („slippery slope“), das keine zwingende Logik hat.

Demokratische Staaten haben Kontrollmechanismen: Parlamente, Gerichte, Abstimmungen. Ob etwas verpflichtend wird, hÀngt nicht an einer geheimen Agenda, sondern am politischen Willen und am Volk (wie die Abstimmung 2021 gezeigt hat).

Beispiel: Online-Banking ist freiwillig. Es hat sich wegen PraktikabilitĂ€t durchgesetzt, aber Bargeld existiert nach wie vor – es gibt also keinen Automatismus zum Zwang.

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4. Indien und Nigeria als Schreckensbeispiele

Behauptung: Millionen verloren Zugang zu Bankkonten oder Lebensmitteln wegen fehlerhafter digitaler IDs.

Widerlegung:

Ja, es gab Probleme mit Aadhaar (Indien), aber das lag an mangelhafter Umsetzung, fehlender Rechtssicherheit und unzureichendem Datenschutz – nicht am Konzept „digitale IdentitĂ€t“ an sich.

Schweiz/EU setzen auf dezentrale, datenschutzfreundliche Systeme, die explizit nicht alle Daten an einer zentralen Stelle bĂŒndeln.

Fehlerhafte Umsetzung in einem Land bedeutet nicht, dass das Konzept ĂŒberall zwangslĂ€ufig scheitert – genauso wie ein misslungenes Schulsystem in einem Land nicht bedeutet, dass Schulen an sich schlecht sind.

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5. Analoge vs. digitale IdentitÀt

Behauptung: Eine analoge IdentitÀt (Pass, Geburtsurkunde) könne nicht entzogen werden, eine digitale schon.

Widerlegung:

Analoge IdentitÀten können genauso entzogen werden (Beispiel: Passentzug bei Steuerflucht, Gerichtsurteil, Einreiseverbote).

Der entscheidende Punkt ist Rechtsschutz: BĂŒrger mĂŒssen Rechtsmittel haben, um Sperrungen oder Missbrauch anzufechten.

Vorteil der digitalen IdentitÀt: Sie kann sicherer und fÀlschungssicherer gestaltet werden, wÀhrend analoge Dokumente leichter zu fÀlschen oder zu verlieren sind.

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6. Inklusions-Schwindel

Behauptung: Ohne digitale ID kein Bankkonto, keine Reise, keine Gesundheitsversorgung.

Widerlegung:

Heute schon: Ohne Pass kein Flugticket, ohne Krankenkassenkarte keine Behandlung, ohne Ausweis kein Bankkonto. Das ist keine neue Kontrolle, sondern lÀngst RealitÀt.

Digitale ID macht diese Prozesse nur effizienter und ermöglicht Menschen ohne Papiere (z. B. in EntwicklungslÀndern) erstmals Zugang zu solchen Leistungen.

Es geht um Erweiterung der Inklusion, nicht BeschrÀnkung.

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7. Globale Verschwörungsthese

Behauptung: Rockefeller Foundation, WEF, UNO wollen totale Kontrolle.

Widerlegung:

Die genannten Organisationen fördern Standards fĂŒr digitale IdentitĂ€ten, weil sie wirtschaftliche Entwicklung, Teilhabe und KorruptionsbekĂ€mpfung erleichtern können.

Zu behaupten, jede internationale Kooperation sei automatisch ein „Kontrollplan“, ist ein Generalverdacht ohne Beweis.

SDG 16.9 („rechtliche IdentitĂ€t fĂŒr alle“) meint Geburtsregistrierung, nicht eine globale E-ID-Pflicht.

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8. Freiheit analog, Kontrolle digital?

Behauptung: Freiheit sei analog, digital bedeute immer Überwachung.

Widerlegung:

Digitale Systeme können mehr Freiheit ermöglichen (Beispiel: Online-Abstimmungen, digitale Unterschriften, weltweiter Zugang zu Wissen).

Entscheidend ist technische Architektur: dezentrale Speicherung, starke VerschlĂŒsselung, klare gesetzliche Grenzen.

Digital ist nicht gleich Kontrolle – es ist eine Frage von Governance und Demokratie.

Fazit

Der Text arbeitet mit Emotionalisierung, Schreckensbildern und Generalverdacht, nicht mit differenzierter Analyse.

Digitale IdentitĂ€ten sind Werkzeuge – sie können missbraucht werden, aber auch Freiheit, Sicherheit und Inklusion fördern, wenn sie transparent, dezentral und demokratisch kontrolliert gestaltet sind.

Wer sie pauschal ablehnt, ĂŒbersieht die Vorteile und beraubt gerade die SchwĂ€chsten (Menschen ohne Papiere, ohne Zugang zu Dienstleistungen) einer Chance auf gesellschaftliche Teilhabe.

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