Wie man Menschenrechte in ihr Gegenteil verkehrt
Zum Klimaurteil des sogenannten Menschenrechtsgerichtshofs
Von Prof. Dr. David Dürr
Ob der schweizerische Staat tatsächlich Menschen getötet habe, fragten mich kürzlich Freunde aus Deutschland mit besorgter Mine. Da habe doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz wegen Verletzung der folgenden Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verurteilt:
Art. 2 Recht auf Leben
Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, ausser durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.Art. 8 Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
Da muss wohl etwas in der Art passiert sein, so dachten meine Freunde, wie in Russland mit dem Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, den die Behörden willkürlich aus seiner Familie herausgerissen und in einem Straflager so lange geplagt haben, bis er daran starb. Ja vielleicht noch schlimmeres, wenn man bedenkt, wer im Fall der Schweiz die Opfer waren. Das waren nicht militante Aufrührer, sondern harmlose ältere Damen, die noch nie jemandem ein böses Wort gesagt, geschweige denn ein Haar gekrümmt haben. Was um Himmels willen war denn der Grund, dass der schweizerische Staat diese Menschen aus ihrer vertrauten Familienumgebung herausgerissen und getötet hat?
Ich habe dann versucht, zu beruhigen, und gleich vorweg etwas klargestellt: Getötet wurde niemand. Die Opfer leben noch immer, und erst noch gesund und munter, jedenfalls für ihr Alter von immerhin etwa 70 Jahren im Durchschnitt. Und noch etwas: Diese Opfer wurden auch gar nicht aus ihrer Familienumgebung gerissen; nicht einmal zu einer Einvernahme wurden sie aufgeboten oder gar abgeführt. Sie gingen stets völlig unbehelligt ihren privaten, familiären und beruflichen Aktivitäten nach.
Drei Fragen
Nun fragten meine Freunde, weshalb sich diese Damen denn überhaupt als Opfer einer Tötung und einer Verletzung ihres Familien- und Privatlebens gefühlt und deshalb den Menschenrechtsgerichtshof angerufen haben. Es war eben eine etwas andere Art von Tötung und Familienverletzung, nämlich eine solche durch den Klimawandel.
Meine Freunde lachten und fanden den Klimawandel derart gefährlich nun auch wieder nicht. Dass diese Gruppe älterer Damen deswegen nun gleich sterben und dass sie zum Beispiel durch einen Klimawandel-bedingten Tornado plötzlich aus dem Kreis ihrer Enkelkinder herausgerissen werden, liege wohl nicht wirklich auf der Hand.
Nun kann man das eben auch anders sehen und solche Gefahren für absolut realistisch halten. Jedenfalls war das die Ansicht dieser Klima-Seniorinnen, wie sich die Klägerinnen-Gruppe nannte, und offensichtlich haben sie den EMRG von dieser Ansicht überzeugt.
Nebenbei stellte ich klar: Diese Argumentarien stammten gar nicht von den Seniorinnen selbst, sondern von Greenpeace. Deren professionelle Weltrettungsaktivisten suchten für dieses Projekt geeignete Statistinnen, die sie als Klägerinnen auftreten liessen. Die offenbar beträchtlichen Anwalts- und Verfahrenskosten durch drei schweizerische Instanzen hindurch und schliesslich zum EMRG soll Greenpeace finanziert haben.
Nun fragten meine Freunde zum zweiten, weshalb sich daraus eine Klage gegen den Staat Schweiz ableiten lasse. Es sei ja nicht die Schweizerische Eidgenossenschaft, die diese klimatische Tötung und Familienverletzung begehe, sondern der Klimawandel als solcher. Und soweit dieser denn tatsächlich menschengemacht sei, seien es eben die Menschen, die angeblich zu viel Auto fahren, Flugzeug fliegen, Fleisch essen und Kinder auf die Welt stellen. Also müssten doch, wenn schon, diese Menschen eingeklagt werden; aber nicht nur die 8 Millionen Einwohner der kleinen Schweiz, die auf den Klimawandel ohnehin keinen nennenswerten Einfluss haben, sondern die 8 Milliarden Menschen der ganzen Welt.
Doch auch von solchen Überlegungen liessen sich die Klima-Seniorinnen und der EGMR ganz offensichtlich nicht beirren, sondern behalfen sich mit einem raffinierten Gedankenspiel: Die Schweizerische Eidgenossenschaft sei zwar nicht Verursacher des Klimawandels, aber sie hätte die Pflicht gehabt, etwas gegen den globalen Klimawandel zu unternehmen. Und weil sie das nicht oder nicht energisch genug gemacht habe, sei es letztlich und indirekt dann halt doch die Schweizerische Eidgenossenschaft, die diese armen alten Frauen tötet und aus ihren Familien herausreisst.
Nun kam noch eine dritte Frage, nämlich was die angebliche Pflicht der Schweiz zur Bekämpfung des globalen Klimawandels überhaupt mit Menschenrechten zu tun habe. Denn der Menschenrechtsgerichtshof sei ja nicht einfach ein Gericht, das irgendwelche Klagen gegen Staaten beurteilt, sondern – wie sein Name sagt – eine Instanz, die den Menschen hilft, ihre Grundrechte gegen Übergriffe des Staates zu verteidigen. Unterzeichnet wurde die EMRK im Jahr 1950 als Reaktion auf die massiven Menschenrechtsverletzungen durch den National-Sozialismus. Es ging und geht mithin um klassische liberale Freiheitsrechte und damit um rein negative Abwehrrechte; letztlich also um das, was man auch schon umschrieben hat als das einzig wahre Menschenrecht, in Ruhe gelassen zu werden.
Wie recht sie doch haben, meine Freunde. Indes, der EGMR kehrt dieses Recht ins Gegenteil um, nämlich in einen positiven Anspruch gegen den Staat auf noch mehr Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger; auf noch rigorosere Einschränkungen und Verbote im Bereich Verkehr, Wohnen, Essen und vielem mehr.
Mit anderen Worten gibt es, so der EGMR, ein Menschenrecht darauf, sich dagegen zu wehren, dass der Staat einen in Ruhe lässt. Man könnte sich über die skurrile Logik amüsieren, würde sie nicht beklemmend an Orwells Neusprech erinnern.
Ein Menschenrecht auf Verletzung von Menschenrechten
Die eigentliche Pointe kommt aber erst: In der grossen Kammer des EGMR, die dieses Urteil erliess, sass auch ein Schweizer: Dieser Richter, mit Namen Andreas Zünd, war vor seiner Entsendung nach Strassburg während Jahren Bundesrichter in der Schweiz gewesen und hatte dabei immer wieder Sympathien für völkerrechtliche Freiheitsbeschränkungen gezeigt. In einem Zeitungs-Interview, das er kurz vor dem Klimaseniorinnen-Urteil gab, unterstrich er mit Nachdruck die Bedeutung staatlicher Interventionen gegen den Klimawandel und wünschte, dass Gerichte diesbezüglich mehr Einfluss nehmen könnten. Diese plumpe Parteinahme eines Richters für eine Prozesspartei noch vor Erlass des Urteils hätte zum Ausstand dieses Richters führen müssen. Die EMRK selbst, aber auch jede andere, halbwegs zivilisierte Prozessordnung, zwingen einen Richter in den Ausstand, wenn schon nur ein Anschein von Befangenheit besteht. Also hätte die andere Prozesspartei, die Eidgenossenschaft, den Ausstand von Richter Zünd verlangen müssen.
Das tat sie aber nicht. Warum wohl? Etwa weil ihr Anwalt gerade sonst viel zu tun hatte und deshalb keine Zeit mehr fand, den Ausstandsantrag fristgerecht zu stellen? Oder weil niemand das Interview von Richter Zünd gelesen hatte? Oder weil man darauf vertraute, dass Richter Zünd einer Verurteilung seines eigenen Landes nicht zustimmen würde (was er allerdings schon mehrmals getan hatte)? All dies will nicht so recht überzeugen. War es nicht eher deshalb, weil die schweizerische Bundesregierung letztlich nichts dagegen hatte, zu mehr Aktivität im Umweltschutz verurteilt zu werden? Was konnte ihr Besseres passieren, als ein Urteil, wonach Menschenrechte die staatliche Regulierungswut nicht bremsen, sondern im Gegenteil beflügeln; wonach es ein Gebot der Menschenrechte sei, Menschenrechte zu beschränken?
Auf keinen Fall! riefen meine deutschen Freunde aus, in der Schweiz, diesem freiheitlichen Land, sei etwas derartiges doch völlig undenkbar.
Prof. Dr. David Dürr studierte an den Universitäten Basel und Genf sowie an der Harvard Law School. Seit 1979 ist er in Basel und Zürich als Anwalt und Notar tätig, an der Universität Zürich lehrte er als Titularprofessor Privatrecht und Rechtstheorie.
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Wir danken dem Autor für die Veröffentlichung des Artikels. Gastbeiträge müssen nicht zwangsläufig die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.