Von Olivier Kessler
«Sie sollten mal ein Buch für uns Politiker schreiben und uns genau sagen, was wir zu tun haben.»
Als mich ein Amtsträger mit dieser Bitte an einer Veranstaltung anging, war ich zunächst etwas perplex: Beschäftigen sich Politiker denn nicht den ganzen Tag mit Politik und müssten eigentlich wissen, was zu tun ist?
Das sei sehr selten der Fall, klärte mich der Politiker auf: Die allermeisten Politiker, die gerne liberal wären, haben keine Ahnung, was das genau bedeutet. Sie haben praktisch keine Ideen für Vorstösse und Reformvorschläge. Sie, Herr Kessler, sollten deshalb unbedingt eine solche Schrift für die vielen Orientierungslosen ausarbeiten.
Was einige verblüffen mag, erscheint bei genauerem Hinsehen logisch: Heutige Politiker, die medial zu allem Möglichem Stellung beziehen müssen und von Thema zu Thema hasten, haben kaum Zeit für Reflexion und grundsätzliche Gedanken – von einer intensiven Beschäftigung mit der liberalen Philosophie und der Marktwirtschaft ganz zu Schweigen.
Das ist der Luxus und der grosse Vorteil eines Think Tanks wie dem Liberalen Institut. Unsere Aufgabe besteht darin, uns prinzipielle Gedanken über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu machen, über wesentliche Zusammenhänge aufzuklären und Reformvorschläge auszuarbeiten.
Jedenfalls habe ich mir den Anstoss des Amtsträgers zu Herzen genommen. Herausgekommen ist das Buch Freiheitsdiät: Erfolgsrezepte für eine fitte Schweiz, in welchem ich für 16 verschiedene Politikbereiche aufzeige, was heute falsch läuft, was sich mit einer freiheitlicheren Politik verbessern würde und wie konkrete liberale Lösungen aussehen könnten.
Der Leser findet ausserdem pfannenfertig ausformulierte Vorschläge für freiheitsorientierte Verfassungsänderungen, mit denen man auch als Nicht-Politiker unmittelbar Volksinitiativen lancieren könnte.
Den Etatismus zurückdrängen
Es ist unübersehbar: Die Ideologie des Etatismus und die Religion der Staatsgläubigkeit haben gesiegt. Vorerst. Seit dem Mauerfall 1989 ist der Westen ideologisch stark abgedriftet. Bis dahin hatte er mehr oder weniger entschlossen an den Prinzipien festgehalten, um die er weltweit beneidet wurde: individuelle Freiheit, Privateigentum, freies Unternehmertum, endlose Möglichkeiten, Marktwirtschaft, Meinungsäusserungsfreiheit.
Bald aber, nachdem die sozialistische Konkurrenz hinter dem Eisernen Vorhang implodierte und auseinanderbrach, war es damit vorbei. Schleichend haben sich Paternalismus, Ãœberregulierung, Bevormundung, Dirigismus, planwirtschaftliche Elemente, staatliche Kontrolle und Ãœberwachung eingeschlichen.
Für einige blieb diese schleichende Entwicklung unbemerkt: Sie glauben irrtümlicherweise, immer noch in der freien Welt zu leben. Das mag auch mit der aufziehenden Cancel Culture, der einseitigen Berichterstattung in den Massenmedien und der Zensur in den sozialen Medien zu tun haben. Diese stellen sicher, dass Stimmen, die diesen problematischen Kurswechseln kritisieren, aus dem öffentlichen Diskurs verbannt oder durch Shadow-Banning und Suchmaschinen-Manipulationen in die Bedeutungslosigkeit gedrängt werden.
Von echter Freiheit kann in den Ländern des Westens kaum noch die Rede sein. Auf dem Papier mögen sie immer noch relativ freier sein als andere Länder, wie etwa die BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, ganz zu schweigen von Ländern wie Kuba, Venezuela oder Nordkorea. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass der absolute Freiheitsgrad in den letzten Jahrzehnten scheibchenweise reduziert wurde. Hier eine Scheibe, da eine Scheibe, dort eine Scheibe.
So sind heute nur noch zertrümmerte Fragmente der freien Welt übriggeblieben. Der Staat hat das Zepter in praktisch allen Lebensbereichen an sich gerissen und das Individuum entmachtet. Werte wie Eigenverantwortung, freiwillige Solidarität, Sparsamkeit und private Vorsorge sind heute verpönt. Nur noch wenige verstehen, woher die hohe Lebensqualität kommt, wie der Wohlstand bewahrt werden kann und welche Prinzipien eine Gesellschaft stark, erfolgreich und friedsam machen. Auch in der Schweiz.
Der Staat: zu viele Kilos auf den Rippen
Seit 1960 hat sich die schweizerische Staatsquote (die Staatsausgaben in Prozent zum Bruttoinlandprodukt) verdoppelt. Der Staatseinfluss nimmt überall zu. Auch privat organisierte Gesellschaftsbereiche werden mit Subventionen zugeschüttet und mit endlosen Regulierungen überzogen. Der Staat beschäftigt bereits rund 950'000 Angestellte (in Vollzeitäquivalenten), was 23 Prozent des gesamten Stellenbestandes in der Schweiz entspricht. 395'000 davon fallen auf den Staat im engeren Sinne, 225'000 auf den Staat im weiteren Sinne (öffentliche Unternehmen) und 330'000 auf staatsnahe Unternehmen (private Unternehmen, die vom Staat finanziert oder kontrolliert werden).
Mehr als die Hälfte aller Preise sind in der Schweiz nicht Ergebnis von Angebot und Nachfrage, sondern von staatlicher Gestaltung oder direkter Kontrolle. Die Fiskalquote liegt unter Berücksichtigung der obligatorischen Beiträge an Kranken- und Pensionskassen bei 40 Prozent, womit die Schweiz entgegen aller Klischees nicht besser als Deutschland oder Österreich dasteht.
Es sind mittlerweile ganze Generationen in diesem semisozialistischen System herangewachsen. Ein System, in dem die Bürger entmündigt, bevormundet und wie Stallvieh vom Staat gefüttert, betreut und vollumfänglich versorgt werden. Viele kennen es gar nicht mehr anders. Sie glauben, die Aufgaben, die der Staat an sich gerissen hat, könnten nur vom Staat erledigt werden. Alternativen sind für sie unvorstellbar.
Dass es auch ohne oder mit weniger Staat ginge, ist für sie ausgeschlossen. Private Akteure seien schliesslich egoistisch, gierig und verfügten nicht über das nötige Wissen. Privaten ginge es nur um den Profit, nicht um das menschliche Wohl. Ganz anders die gemeinwohlorientierten, vorausschauenden und allwissenden Staatsakteure. Aus irgendeinem Grund glauben die meisten, dass die Menschen zu Engeln werden, sobald sie in ein staatliches Amt gewählt werden. Abra kadabra, simsalabim: Das gleiche Geschöpf, das zuvor als unzureichend, moralisch niedrig und selbstbezogen angesehen wurde, hat sich auf magische Weise in eine selbstlose Person, in einen gemeinwohlorientierten Helden verwandelt, der idealisiert, verherrlicht und fast schon angebetet wird. Das Bauchgefühl eines jeden Kindes merkt, dass an dieser Erzählung etwas falsch sein muss. Doch erstaunlicherweise ziehen solche Ammenmärchen bei einer grossen Zahl von vermeintlich aufgeklärten Erwachsenen.
Fantasien anregen
Die zunehmende Überführung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten von Privaten an Staatsakteure hat nicht nur zu einem enormen Klumpenrisiko und einem massiven Überborden der Staatsausgaben und -verschuldung geführt, sondern auch zu einer geistigen Verödung. Man kann sich schlicht nicht mehr vorstellen, wie es wäre, wenn ungezwungen agierende Bürger auf Basis der Rechtsgleichheit kooperativ eine Gesellschaft organisieren würden, ohne dass der Staat jedes Detail für sie plant, gestaltet und umsetzt, ohne dass der Staat einen Einheitsbrei für alle vorschreibt und diesen mit Zwang und Gewalt durchsetzt.
Das neue Buch Freiheitsdiät ist daher bitter nötig. Es will die Fantasien anregen. Es will aufzeigen, wie verschiedenste Politikbereiche organisiert werden könnten, wenn sich der Staat auf dem jeweiligen Gebiet zurückziehen würde. Käme es tatsächlich zur Katastrophe, zum Chaos und zur Unordnung, wie immer wieder gewarnt wird? Oder überwiegen die Chancen, die Möglichkeiten und die Vorteile?
Diese Denkaufgabe ist nicht einfach nur theoretischer Natur und ohne jeden Nutzen für die Realität, in der wir leben. Denn es ist damit zu rechnen, dass der völlig überforderte, überschuldete und damit zunehmend handlungsunfähige Staat die Aufgaben, die er an sich gerissen hat, nicht für alle Ewigkeit wird weiterführen können. Ab einem bestimmten Zeitpunkt werden wir keine andere Wahl mehr haben, als uns von unseren Illusionen und realitätsfremden Träumereien zu lösen und zu tauglichen Lösungen zurückzukehren.
Denn der Staat ist kein Magier, der alle Probleme verschwinden lassen und die nötigen Mittel dafür hervorzaubern könnte. Alles, was der Staat ausgibt, muss er zuvor jemandem wegnehmen. Der Staat kann selbst keinen Wohlstand schaffen, er kann ihn nur umverteilen und vernichten. Je mehr Funktionen er an sich reisst, desto stärker zerstört er den gesellschaftlichen Frieden, die Freiheit und unsere Lebensstandards.
Rückkehr zu liberalen Prinzipien
Es gibt keinen anderen Ausweg als eine Rückkehr zu liberalen Lösungen. Zu Lösungen, die auf einem humanen, respektvollen und friedlichen Miteinander von Gleichberechtigten basieren, anstatt auf einer Zweiklassengesellschaft von Staatsprofiteuren einerseits und steuerlich Ausgebeuteten andererseits. Dann, in diesem Moment, wird der jahrzehntelange Betrug, die Gaunerei der politischen Klasse und der Raubzug an den Nettosteuerzahlern für alle sichtbar.
Es wird klar, was Ökonomen schon lange wussten: Nämlich, dass ein Monopolist wie der Staat der denkbar schlechteste Akteur ist, um diesem so wichtige Aufgaben wie die Altersvorsorge, die Bildung oder die Gesundheit anzuvertrauen. Wir werden erkennen, dass nicht eine Befehlswirtschaft, Zwangsumverteilung und Entmündigung die Pfeiler unserer Zivilisation sind, sondern Wahlfreiheit, Wettbewerb und der konsequente Schutz des Privateigentums. Und wir werden realisieren, dass wir nachhungern müssen, was wir vorausgefressen haben (Roland Baader).
Schmerzlich werden wir alle die Erfahrung machen, die Länder wie Grossbritannien vor Thatcher oder Schweden in seiner sozialdemokratischen Epoche des 20. Jahrhunderts machen mussten. Diese Länder wurden aufgrund ihrer semisozialistischen Experimente so krank, dass es nicht mehr anders ging, als zu liberaleren Lösungen zurückzukehren und den Staat zurückzufahren. Das haben diese Länder dann zwischenzeitlich auch gemacht – mit grossen Erfolgen.
Ein Reformprogramm für die Freiheit
In meinem neuen Buch will ich deshalb aufzeigen, woran unser heutiges System krankt und den Weg für freiheitliche Reformen ebnen. Das vorliegende Werk soll einen Überblick bieten über die Anwendung liberaler Prinzipien in verschiedensten Politikbereichen. Es will für jeden dieser Bereiche die Frage aufwerfen: Was läuft hier zurzeit schief? Wer oder was ist daran schuld? Wie könnte man es besser machen? Welche Herausforderungen bringt dies allenfalls mit sich? Und mit welchen Reformen kämen wir einem solchen Ziel näher?
Mehr Freiheit, weniger Staat, lautete einst ein vielsagender politischer Slogan. Leider können ihm nur noch wenige etwas abgewinnen, weil sie nach unzähligen Jahren der etatistischen Indoktrination durch die Massenmedien und das Bildungssystem die Problematik dahinter gar nicht mehr verstehen. Die meisten sehen den Staat als Lösung, nicht als Problem. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.
Es ist daher höchste Zeit, den Slogan wiederzubeleben und das Problembewusstsein zu erhöhen. Dieses Buch will deshalb hoffnungsvolle liberale Visionen skizzieren, die freiheitsliebenden Politikern, Aktivisten und Bürgern als Kompass dienen können. Die Zeit zu handeln ist jetzt.
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Der vorliegende Text ist ein leicht angepasster, exklusiver Auszug aus dem neuen Buch von Olivier Kessler Freiheitsdiät: Erfolgsrezepte für eine fitte Schweiz. Dieses ist hier erhältlich.
Olivier Kessler ist Ökonom, Publizist und Direktor des Liberalen Instituts. Zuvor war er für mehrere Public-Affairs-, Medien- und Finanzunternehmen tätig. Kessler hat an der Universität St. Gallen International Affairs & Governance studiert. Er ist Mitglied der Friedrich August von Hayek Gesellschaft und war Stiftungsrat der Free Cities Foundation. Als Präsident des Vereins zur Abschaffung der Medienzwangsgebühren leitete er die Kampagne der liberalen «No-Billag-Initiative». Kessler ist Autor der Bücher Freiheitsdiät: Erfolgsrezepte für eine fitte Schweiz (2024), 64 irreführende Politikbegriffe: Wie Sie trotz Nebelpetarden den Durchblick behalten (2023), Co-Autor des Buches 64 Klischees der Politik: Klarsicht ohne rosarote Brille (2020) sowie Autor und Mitherausgeber unter anderem der Bücher Wissenschaft und Politik: Zuverlässige oder unheilige Allianz? (2022), Verlockung der Macht: Die Kunst, die offene Gesellschaft zu verteidigen (2022), Liberalismus 2.0: Wie neue Technologien der Freiheit Auftrieb verleihen (2021), Null-Risiko-Gesellschaft: Zwischen Sicherheitswahn und Kurzsichtigkeit (2021), Mutter Natur und Vater Staat: Freiheitliche Wege aus der Beziehungskrise (2020) und Explosive Geldpolitik: Wie Zentralbanken wiederkehrende Krisen verursachen (2019).
Wir danken dem Autor für die Veröffentlichung des Artikels. Gastbeiträge müssen nicht zwangsläufig die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
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Ja, auch ich habe mir die Frage gestellt, was in diesem Land schief geht? Um die Ausführungen kurz zu halten, bin ich der Meinung, dass es den tatsächlichen Machthabern in erster Linie nur darum geht, ihre Errungenschaften und Interessen zu sichern, was die Bevölkerung darüber denkt, ist den meisten eigentlich egal und lässt sie kalt, wie es der Volksmund sagen würde.
Wir erleben zur Zeit eine Zersetzung der zivilisatorischen Rahmenbedingungen. Auf einmal soll die Ernährung der Bevölkerung vollständig auf den Kopf gestellt werden. Das Automobil wird als eine Gefahr für unsere Umwelt gesehen und muss verboten werden oder auf eine noch schädlichere Technologie umgestellt werden. Energie wie Strom und Gas wird auch bald zu unerschwinglichen Preisen gehandelt. Hier hat die sogenannte liberale Marktwirtschaft im wesentlichen versagt.
Der Mensch wurde auf diesem Planeten als Treuhänder eingesetzt. Das gab zwar schon seit Beginn viele Probleme, aber in den letzten 120 Jahren haben wir es geschafft, uns in zwei Weltkriege hereinziehen zu lassen, neben den zahllosen anderer militärischen, politischen, sozioökonomischen und ökologischen Konflikte. Der Mensch wurde des Menschen Feind. Ich habe einfach den Eindruck gewonnen, dass die heute herrschende Elite einfach den Menschen nicht mag oder geradezu hasst und beschlossen hat ihn irgendwie los zu werden. Nur unser "freier" Wille ist ihnen noch im Weg. Sie warten sehnlichst auf unsere Einlassung, unser eigenes Ende zu besiegeln. Wieso soll denn die Produktion von Gütern in der 4. Revolution auf Robotern und intelligente Maschinen, die Verwaltung auf KI, die Landwirtschaft auf vertical Gardening etc. umgestellt werden. Der Mensch kommt bald in ihrem Wortschatz nicht mehr vor.
Wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken? Wir können auch auf viele elektronische Hilfsmittel einfach einmal verzichten. Wir kaufen einfach nicht mehr die Produkte der globalen Anbieter. Wir fangen wieder an, schöne Häuser zu bauen, in denen wieder Leben möglich ist. Wir schliessen uns wieder zu kleinen Gemeinschaften zusammen, die zu allen Mitgliedern Sorge tragen. Wir erneuern unsere Medizin. Wir bauen wieder unsere eigenen Lebensmittel an und arbeiten mit den Landwirten zusammen. Um die Gemeinschaften der Zukunft zu bilden, braucht es ein neues Verständnis im Umgang mit den Menschen und der Natur. Der erste Schritt ist wohl der Schwierigste.
"Das Bauchgefühl eines jeden Kindes merkt, dass an dieser Erzählung etwas falsch sein muss" ...selten so einen Schwachsinn gelesen.